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Ein vielschichtiges Objekt

Siegelstempel aus Deutschland, 19. Jh. , Inv. Nr. 30.14:10, Sammlung Carlebach

Mit diesem Stempel wurde vom Rabbinat Fleisch als „koscher“ gekennzeichnet und war damit nach den jüdischen Glaubensvorschriften für den Konsum geeignet. Für mich veranschaulicht dieses Objekt ganz hervorragend, dass auch mit einem auf den ersten Blick unscheinbaren Gegenstand vielfältige Themen verknüpft sein können.

So illustriert der Stempel zunächst die Speisevorschriften als einen Grundpfeiler des jüdischen Glaubens. Darüber hinaus steht der Stempel aber auch in Bezug zu der Praxis des Schächtens, eine bis heute kontrovers diskutierte und mit Vorurteilen behaftete Form der Schlachtung, bei der das Tier ohne Betäubung getötet wird und ausblutet. Da das Schächten sowohl von Juden als auch von Muslimen praktiziert wird, zeigt dieses Objekt in gewisser Weise sogar eine der vielen Verbindungen zwischen diesen oft als rein gegensätzlich wahrgenommenen Religionen auf. In einer zukünftigen Ausstellung könnte dieser Stempel also Anlass zu Diskussionen über so unterschiedliche Themen wie Religionsfreiheit, Tierschutz, antisemitische Vorurteile oder den interreligiösen Dialog bieten.

Noch weitere Bedeutungsebenen dieses Stempels erschließen sich, wenn wir uns mit seinem Sammler befassen. Dieses Objekt stammt – wie fast alle für die jüdische Religion bedeutsamen Objekte aus der Lübecker Völkerkundesammlung – von dem Kunsthändler Julius Carlebach (1909-1964). Der Enkel des Rabbiners Salomon Carlebach wollte eine Kollektion zusammenstellen, mit der die Lübecker über die Lebensweise ihrer jüdischen Mitbürger vorurteilsfrei informiert werden sollten. Die Eröffnung seiner Sammlung im Museum am Dom erfolgte erst 1932, sie blieb aber auch Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten Teil der Dauerausstellung, mindestens bis 1937, vermutlich aber sogar bis zur Bombardierung des Museums 1942. 

Diese Tatsache ist durchaus beachtlich, wenn man bedenkt, dass andere Museen weitaus schneller der nationalsozialistischen Propaganda angepasst wurden. Hatte man die Sammlung Carlebach einfach vergessen? Zeugt ihr Verbleib in der Ausstellung von einer stillschweigenden Akzeptanz jüdischer Kultur als Teil der Lübecker Stadtgeschichte? Oder deutet sich hier gar ein grundsätzliches Interesse an anderen Kulturen an, dass selbst in den dunkelsten Zeiten der Shoa niemals gänzlich erstarb? Zumindest für die Zeit vor 1933 belegen die Ausstellungen und Veranstaltungen des Museums für Völkerkunde und der Geographischen Gesellschaft eine Neugier auf fremde Länder und Kulturen, die weit über bloße Kolonialpropaganda hinausreicht. Noch frühere Belege für dieses Interesse könnte man in der Sammlung des Pastors Jacob von Melle (1659-1743) oder in der altägyptischen Mumie sehen, die seit dem späten 17. Jahrhundert in Lübeck öffentlich präsentiert wurden. Gerade heute, wo Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus um sich greifen, erscheint es mir wichtig, neben dem Gedenken an die Opfer von Holocaust und Kolonialismus auch an diese lange Tradition der Lübecker Weltneugier zu erinnern, an die wir positiv anknüpfen sollten.

Mit der geplanten Wiedereinweihung der Carlebach-Synagoge im kommenden Jahr wird Lübeck auch einen neuen Ort interkultureller und interreligiöser Dialoge erhalten. So erscheint es nur passend, dass wir in den Lübecker Museen gerade darüber nachdenken, ob und wie Objekte aus der Sammlung Carlebach dort bzw. an anderen Standorten präsentiert werden können. Denn nur indem wir diese Bestände im Original zeigen, können sie wieder jenen Zweck erfüllen, den ihr Sammler Julius Carlebach im Sinn hatte: sachlich über den jüdischen Glauben zu informieren, um Vorurteilen und rassistischer Hetze entgegenzuwirken.

Schließlich ist dieser Stempel für mich auch ein Symbol für meine Tätigkeit als Museumsleiter. So müssen wir uns vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Kolonialismus und Beutekunst mehr denn je fragen, ob es bei den Erwerbungen unserer Objekte immer „koscher“ zuging.  Der Stempel sollte aber nicht zu dem Gedanken verleiten, dass es nur darum ginge, ein Unbedenklichkeitssiegel in industrieller Massenabfertigung zu vergeben. Vielmehr stammt dieser Stempel aus dem 19. Jahrhundert, also aus einer Zeit der Manufakturwaren, und symbolisiert für mich daher den Anspruch, jedes Objekt gründlich und individuell zu prüfen.