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Altes Wissen neu erschließen

Schloss mit Fallklötzen und Schlüssel , Estland, vor 1919, Inv. Nr. 18.12:11 a+b, Sammlung Karutz

Während allerorts über die Restitution von Raubgut aus ethnologischen Museen gesprochen wird, übersieht man leicht, dass viele Herkunftsländer eher an einer Zusammenarbeit und einem Wissensaustausch interessiert sind. Eben diese Rückgabe von Wissen, das mit den Objekten unserer Sammlung konserviert wurde, halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben eines modernen ethnologischen Museums. In diesem Sinne freute es mich sehr, als ich Anfang des Jahres eine Anfrage vom Nationalmuseum in Estland erhielt, wo man sich für ein hölzernes Türschloss aus unserer Sammlung interessierte.

Das estnische Nationalmuseum ist ein beeindruckender Bau mit innovativen Ausstellungen und starker Praxisorientierung. Es unterstützt z.B. Besucher bei der Fertigung traditioneller Trachten, die während der berühmten Sängerfeste getragen werden. Eine einheimische Künstlerin namens Heidi Solo begann sich vor einigen Jahren auch für die Tradition der Fertigung von Türschlössern aus Holz zu begeistern. Im 19. Jahrhundert wurden nicht etwa Wohnhäuser, sondern Vorratsräume mit solchen Schlössern versehen, denn die Menschen waren arm und nicht ihr bescheidenes Inventar, sondern die Lebensmittel für den Winter galt es zu schützen. Aktuell sind nur noch neun Häuser bekannt, die über solch ein Schloss verfügen. Eine Hausbesitzerin wusste jedoch zu berichten, dass der simple aber effektive Mechanismus den Zugriff eines professionellen Einbrechers vor wenigen Jahren verhindern konnte.

Um diese Handwerkskunst wiederzubeleben, suchte das Nationalmuseum in verschiedenen Ländern nach alten estnischen Türschlössern. Diese werden im Laufe des Jahres in einer eigenen Ausstellung präsentiert und nachgebaut. Tatsächlich gibt es auch in der Lübecker Sammlung ein Exemplar mit einigen Besonderheiten, die kein anderes Objekt in der bereits stattlichen Sammlung des Nationalmuseums aufweist.
Als ich im April meine Reise antrat, um das Schloss nach Estland zu bringen, war ich bei aller Begeisterung von einem eher kleinen Projekt ausgegangen. Ich hegte aber zumindest die Hoffnung, über eine zukünftige Zusammenarbeit sprechen zu können, da Lübeck und Estland durch ihre Geschichte schon seit dem Mittelalter eng miteinander verbunden sind. Zu meiner Freude war auch das Interesse auf estnischer Seite sehr groß und die historische Bedeutung Lübecks jedermann ein Begriff. So wurde die Ankunft des „Lübecker“ Objektes sogar mit einem Pressetermin gewürdigt. Darauf folgten eine Besichtigungen der Sammlung und Treffen mit einer Gruppe von Kunsthandwerkern in einem nahe gelegenen Dorf sowie die Besichtigung eines vorchristlichen Kultplatzes, an dem bis heute Opfergaben niedergelegt werden.

Natürlich sprachen wir auch über unsere gemeinsame Geschichte. Denn obwohl der deutsch-baltische Adel eine feudalistische Herrschaft über die estnischen Bauern ausübte, stehen die meisten Esten dem deutschen Erbe in Form von Kunstsammlungen und Herrenhäusern sehr positiv gegenüber. Auch die Tatsache, dass die Lübecker Estlandsammlung überwiegend 1918 während der kurzzeitigen Besatzung des Landes durch deutsche Truppen zusammengetragen wurde, war kein Grund für vorschnelle Verdächtigungen oder gar Rückgabeforderungen. Ein großer Gewinn waren auch die Gespräche mit den estnischen Volkskundlerinnen, die bei der Identifikation einiger bisher unbekannter Objekte der Lübecker Sammlung halfen. Diesen Austausch von Wissen zum beiderseitigen Nutzen werden wir in den kommenden Monaten fortsetzen. Auf diesem Weg, so hoffe ich, können wir die Grundlagen für eine Auffrischung unserer historischen Beziehungen und eine dauerhafte Zusammenarbeit schaffen.